Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter November 22, 2022

„Wir brauchen dringend mehr Ordoliberalismus“

Ein Gespräch über Filz, Wettbewerb und die Vereinnahmung von Ökonomen

  • Luigi Zingales EMAIL logo

PWP: Professor Zingales, auf Ihrer Website an der Chicago Booth School of Business [1] zitieren Sie Karl Marx mit seinem Satz „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“[2] Sind Sie Marxist?

Zingales: Ich bin sicher kein Marxist, aber Marx war ein sehr guter Wirtschaftswissenschaftler. Natürlich hat er sich in vielen Dingen geirrt, aber wer tut das nicht? Es wäre dumm, nicht anzuerkennen, dass er einige sehr wichtige Beiträge geleistet hat. Und ich finde es cool, dass dieser Spruch auf der Website einer Business School steht, auch wenn die meisten Leute das gar nicht bemerken. Ich wende dieses Motto natürlich auf die Wirtschaftswissenschaften an. Wie Marx denke ich, dass es unsere Aufgabe ist, nicht nur zu untersuchen, was in der Wirtschaft passiert, sondern auch zu versuchen, die Welt auf der Grundlage unserer Erkenntnisse ein bisschen zu bessern.

PWP: Das hat Sie wahrscheinlich auch bewogen, zwei Bücher für ein breiteres Publikum zu schreiben: „Saving Capitalism from the Capitalists“ (2003) [3] , mit Raghuram G. Rajan, und „A Capitalism for the People“ (2012) [4] . Weitere zehn Jahre sind vergangen – Zeit für ein drittes Buch, oder?

Zingales: Nun, vielleicht. Bücher nur einmal pro Jahrzehnt zu veröffentlichen, ist aus verlegerischer Sicht eine schreckliche Sache. Wenn man Autor ist, muss man auch weiterhin als Autor in Erscheinung treten. Aber ich habe beschlossen, dass ich dann Bücher schreiben will, wenn ich etwas zu sagen habe, und das habe ich nicht ständig.

PWP: Im ersten Buch plädieren Sie vehement für den freien Markt und warnen, dass die Märkte durch private Geschäftsinteressen bedroht sind. Das zweite Buch, das auf dem ersten aufbaut, war dann ein noch direkterer Angriff auf den heutigen Filz von Politik und Unternehmen in den Vereinigten Staaten, auf Englisch „Cronyism“. Was hat Sie dazu veranlasst?

Zingales: Das erste Buch war noch sehr stark von den neunziger Jahren beeinflusst, vom Erfolg des amerikanischen Modells und von der Frage, warum einige marktwirtschaftliche Institutionen nicht überall auf der Welt weiter verbreitet sind. Mir wurde klar, dass die größten Gegner der Verbreitung von Marktinstitutionen die lokalen Eliten sind. Das zweite Buch entstand aus einer Selbstreflexion nach der Finanzkrise 2008, die für alle, die an freie Märkte glauben, ein ziemlicher Schock war. Was mich persönlich am meisten schockiert hat, war jedoch nicht, dass es zu einer Krise gekommen war. Kein System ist perfekt. Vielmehr fand ich die Reaktion der meisten Ökonomen auf die Krise selbst schockierend.

PWP: Inwiefern?

Zingales: Sie war sehr verzeihend – verzeihend auf eine Art und Weise, wie sie die meisten Ökonomen niemals an den Tag legen würden, wenn es zum Beispiel um Massenarbeitslosigkeit geht. Bei hoher Arbeitslosigkeit finden sie immer einen Schuldigen, eine bestimmte Person, die einen Fehler gemacht hat. Hier nicht. Aber das System war nicht perfekt, und unsere Aufgabe als Ökonomen bestand darin, darüber nachzudenken, wie es verbessert werden könnte. Damals hoffte ich, dass die marktwirtschaftlichen Kräfte die Wut der Bevölkerung in einen Kampf gegen den Filz im kapitalistischen Systems lenken würden, so dass die Möglichkeiten für „Rent-seeking“ abnähmen. Ich hatte gehofft, dass sich eine populäre marktfreundliche Agenda herausbilden würde, und dass die Menschen verstehen: Der Markt funktioniert nur deshalb nicht, weil die Spielregeln falsch sind, und eine Korrektur der Regeln würde auch das System bereinigen.

PWP: Das hat nicht ganz geklappt, oder?

Zingales: Nein, und ich muss zugeben, dass ich diese Hoffnung inzwischen verloren habe.

PWP: Was können wir also noch tun?

Zingales: Das weiß ich tatsächlich noch nicht. Das ist auch der Grund, warum es noch kein drittes Buch gibt. Ich habe bis jetzt noch keine Lösung.

PWP: Ökonomen neigen normalerweise dazu, andere Ökonomen zu verteidigen, aber Sie stellen sich hier gegen ihre Profession – warum?

Zingales: Nach der Finanzkrise von 2008 habe ich gesehen, wie schnell unsere Profession die Fehler, die wir gemacht haben, rechtfertigte. Ich fing an zu denken, dass wir wirklich die Analyse des Eigeninteresses auch auf uns selbst anwenden müssen. Es ist schon lustig, dass die meisten Ökonomen denken, dass jeder durch Anreize und Geld motiviert ist – nur sie selbst nicht. Ich muss mich korrigieren: Das ist so eklatant, dass es nicht einmal lustig ist. Dies ist jedenfalls eine der Ideen, die mich zu meinem zweiten Buch inspiriert haben. Die zweite Inspiration ist autobiografischer Natur. Ich bin als Doktorand aus Italien in die Vereinigten Staaten gekommen, und mit der Zeit habe ich festgestellt, dass das Land viel weniger perfekt ist, als ich ursprünglich dachte. Vielleicht habe ich mich verändert, aber das Land hat sich auch verändert. In der Tat hat es sich dramatisch verändert.

PWP: In welcher Hinsicht?

Zingales: In Bezug auf die Art und Weise, wie sich Wirtschaft und Politik miteinander verstrickt haben. Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel geben. Wissen Sie, wie viele Fundraising-Veranstaltungen Ronald Reagan besucht hat, als er zum zweiten Mal für das Amt des Präsidenten kandidierte? Null. Und was ist mit Barack Obama? 271. Es lagen nicht einmal 30 Jahre dazwischen. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Wir haben es kaum bemerkt, weil es Schritt für Schritt kam, aber diese Entwicklung müssen wir besser verstehen.

PWP: Ihre Warnung vor Filz deckt sich mit dem klassischen Verständnis der Vorzüge des Wettbewerbs – Wettbewerb kann die ökonomische Effizienz fördern, aber er verhindert darüber hinaus sowohl die Anhäufung von Macht als auch die Verflechtung von politischer und unternehmerischer Macht, also den Filz. In gewisser Weise ist dies das ordoliberale Argument, das Walter Eucken und Franz Böhm in den vierziger und fünfziger Jahren vorgebracht haben.

Zingales: Die Ursprünge des amerikanischen Kartellrechts waren auch eigentlich ganz ähnlich, wenn man an Senator John Sherman denkt, der den Antitrust Act geschrieben hat, und an Richter Louis Brandeis. Es waren der Jurist

Robert Bork und der Ökonom Oliver Williamson, die später die politische Dimension des Kartellrechts im Wesentlichen beseitigten.

PWP: Wenn Sie von der Analyse Ihres zweiten Buches ausgehen, in dem Sie beschreiben, dass Märkte und Wettbewerb sowohl durch Überregulierung als auch durch Filz bedroht sind, würden Sie dann sagen, dass die Situation inzwischen noch schlimmer ist als vor zehn Jahren?

Zingales: Ja, und einer der Namen, die hier zu nennen sind, ist natürlich Donald Trump. Der Mann hat mich auf Anhieb an Silvio Berlusconi erinnert, in vielerlei Hinsicht. Beide haben ein einzigartiges Talent dafür, das Bauchgefühl der Menschen anzusprechen und die richtigen Saiten anzuschlagen. Und sie kommen beide aus der Immobilienbranche. Das Immobiliengeschäft ist die korrupteste Branche überhaupt in allen Ländern der Welt, und es herrscht dort niemals richtig Wettbewerb. Es geht schließlich immer um Lage, Lage, Lage und somit um Monopol, Monopol, Monopol. Das ganze Gerede dieser Leute über den freien Markt ist ein Witz. Mit Trump sind die Vereinigten Staaten immer mehr zu einem Land wie Italien geworden, abgesehen von dem guten Essen und dem Wein. Ich bin übrigens nicht sicher, dass Trump weg ist.

PWP: Stimmt – aber warum nur?

Zingales: Es gibt einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung, der in der Entwicklung der vergangenen vierzig Jahre abgehängt wurde. Der fortgesetzte Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie hat es mit sich gebracht, dass die Menschen heute auf dem Arbeitsmarkt extrem flexibel sein müssen. In einem Jahr ist man Tischler, im nächsten Jahr soll man Krankenschwester oder Webdesigner werden. Aber das wird nicht passieren, es ist nicht so einfach. Wir hatten die Kosten vergessen, die mit solchen Flexibilitätsanforderungen einhergehen, und wir sollten uns jetzt dringend dieser Herausforderung bewusst werden: Sie ist disruptiv für das Gefüge der Gesellschaft an sich.

PWP: Apropos disruptiv: Die Energiekrise, verursacht durch Putins Angriff auf die Ukraine, macht die Zukunft ziemlich unberechenbar.

Zingales: Ja, aber eine Krise ist eine Krise, und normalerweise wird auch sie vorübergehen. Die Schrumpfung der Industrie ist jedoch ein struktureller Trend. Er wird mit der beabsichtigten Umstellung auf Elektroautos auch nach Deutschland kommen. Die aktuelle Energiekrise wird diesen Wandel noch beschleunigen. Und das bedeutet, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Das wird Ressentiments schüren und dem Populismus Vorschub leisten.

PWP: Düstere Aussichten... Kommen wir trotzdem zum Wettbewerb, einem Thema, mit dem Sie sich in den vergangenen Jahren viel beschäftigt haben. Sie haben vor kurzem einen Artikel über die rückläufige Durchsetzung des Kartellrechts in den USA veröffentlicht, in dem Sie zeigen, dass die Schwächung nicht etwa auf den Einfluss der Chicago School zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf die Vereinnahmung des Rechtssystems durch Wirtschaftsinteressen [5] . Was hat Sie veranlasst, sich speziell hiermit zu befassen?

Zingales: Nachdem ich mein Buch geschrieben hatte, wurde mir die Bedeutung – und meine Unkenntnis – des Kartellrechts bewusst. Mir ist bewusst, dass ich kein Industrieökonom bin; ich lerne auf diesem Feld noch. Je mehr ich lerne, desto verrückter erscheint mir das Ganze. Die orthodoxe Ansicht ist ja, dass kartellrechtliche Entscheidungen das Wohl der Verbraucher steigern sollten, die Verbraucherwohlfahrt („Consumer welfare“). Das war die Norm, und wenn man daran nicht glaubt, ist man kein Ökonom. Diese Norm klingt sehr wissenschaftlich, ist aber sehr verwirrend. Denn was genau meinen die Leute, wenn sie von Verbraucherwohlfahrt sprechen? Meinen sie die Konsumentenrente, oder meinen sie die Wohlfahrt insgesamt? Das ist völlig ungenau.

PWP: Nun, das ist eben kein Ökonomen-, sondern Juristenjargon. Der Rechtswissenschaftler Robert Bork hat den Begriff erfunden, richtig?

Zingales: Ganz genau. Aber noch einmal: Was bedeutet Verbraucherwohlfahrt? Wenn damit die Konsumentenrente gemeint ist, dann sollte Preisdifferenzierung prinzipiell verboten werden. Das ist sicherlich nicht, was Bork gemeint hat. Wenn die Gesamtwohlfahrt gemeint ist, sollen wir dann nur die Effizienz betrachten und die Auswirkungen auf die Verbraucher ignorieren? Ich denke, der Begriff Verbraucherwohlfahrt ist ein phänomenaler Marketingtrick von Bork. Einerseits hat er den Anschein ökonomischer Seriosität, und andererseits erweckt er den Eindruck, dass er konsumentenfreundlich ist, auch wenn das gar nicht unbedingt stimmt. Vielleicht erklärt dieser Marketingtrick, warum die neuere Chicago School, verkörpert durch die Kartellrechtstradition nach Bork, zu einer Orthodoxie werden konnte, nicht nur in den Vereinigten Staaten.

PWP: Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte, warum Sie sich die Kartellrechtsdurchsetzung vorgeknöpft haben.

Zingales: Wissen Sie, als ich 2015 das Stigler Center for the Study of the Economy and the State in Chicago übernahm, setzte ich mir das Ziel, die Antitrust-Debatte wiederzubeleben. Seitdem hat sich ein Großteil meiner Forschung darauf konzentriert. In dem von Ihnen erwähnten Papier argumentieren wir auf der Grundlage mehrerer neuer Datensätze, dass der Rückgang der Durchsetzung in den Vereinigten Staaten seit den sechziger Jahren nicht auf den Willen der Bevölkerung zurückzuführen ist, sondern größtenteils von nicht gewählten Regulierungsbehörden und Richtern herbeigeführt wurde. Es stellt sich heraus, dass die Wirtschaft mit ihrem wachsenden politischen Einfluss auch die Richter vereinnahmt hat. Chicago war in den dreißiger, vierziger und frühen fünfziger Jahren ein Antitrust-Bollwerk. Dort lehrte unter anderem Henry Simons – er war wohl das, was in den Vereinigten Staaten einem Ordoliberalen am nächsten kommt. Und dann war da natürlich noch George Stigler. Er schrieb einmal einen Artikel für Fortune[6], in dem er die großen Konzerne anprangerte und argumentierte, dass es nicht nur richtig, sondern auch konservativ sei, diese Unternehmen zu zerschlagen. Konservativ sei es in dem Sinne, dass sich die Politik nicht in die Wirtschaft einmischen sollte. Wir wollen eine Trennung der Sphären. Mich interessiert die Frage, wie sich Chicago mit einem solchen Ansatz zu dem entwickeln konnte, was heute klischeehaft als Chicago School bekannt ist, wo die Unternehmen wichtiger sind als die Märkte.

PWP: Können Sie erklären, wie es zur Vereinnahmung, zur „Capture“ der Richter kam?

Zingales: Ich sehe das Powell-Memorandum[7] im Zentrum dieser Entwicklung. Lewis Powell war ein bekannter Unternehmensanwalt in Virginia. Im Jahr 1971 schrieb er ein Memorandum für die amerikanische Handelskammer, in dem er von einem „Angriff“ auf das amerikanische Unternehmenssystem sprach und sich darüber beklagte, wie wenig Einfluss die Wirtschaft auf die Regulierung in Washington hat. Er entwarf auch eine Strategie. Komponente Nummer eins: Eroberung der akademischen Welt. Nummer zwei: Die Wirtschaft braucht mehr Einfluss in der politischen Arena, und das erreichen wir durch Spenden usw. Nummer drei: Wir müssen den Obersten Gerichtshof erobern. Kurz nach diesem Memo wurde er zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt. Innerhalb von drei Jahren verfasste er zwei grundlegende Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, die die Wahlkampfspenden liberalisierten. Dahinter stand der Gedanke, dass Redefreiheit und Geld gleichgesetzt werden können. Dann, ebenfalls in den siebziger Jahren, ermöglichte eine Reihe von Wahlkampf-Reformgesetzen die Gründung von „Political Action Committees“ (PACs) durch Unternehmen. Solche PACs bündeln die Wahlkampfspenden ihrer Mitglieder und spenden diese Mittel für ihre Kandidaten. Diese beiden Elemente verstärkten einander gegenseitig. Die liberalisierten Wahlkampfspenden, die durch die PACs ermöglicht wurden, machten den amerikanischen Kongress viel wirtschaftsfreundlicher als zuvor, was sich wiederum in der Ernennung von Richtern für den Obersten Gerichtshof bemerkbar machte, die in wirtschaftlichen Fragen weit rechts standen. Die Wirtschaft wurde mächtiger. Es wird heute auch sehr viel Geld für den Prozess der Bestätigung von Richtern ausgegeben, wobei die Wirtschaft Senatoren ins Visier nimmt, die möglicherweise nicht für einen bevorzugten Kandidaten stimmen.

PWP: Dieses System scheint definitiv kaputt. Kann es eine Reparatur, einen Ausweg geben?

Zingales: In den Vereinigten Staaten ist es nicht einfach, es zu reparieren, weil einige Entscheidungen Verfassungsrang haben. Ich glaube aber, dass ein Ausweg darin besteht, die Unternehmensdemokratie als Instrument zu nutzen. Die Aktionäre können sehr wohl beschließen, dass ihr Unternehmen jede Wahlkampfspende offenlegen muss, und sie können ihm Beschränkungen auferlegen. Angesichts der Konzentration des Aktienbesitzes in wenigen Investmentfonds reicht es aus, nicht mehr als drei Personen davon zu überzeugen, genau das zu tun – und schon sind wir fertig. Daran arbeite ich derzeit. Kürzlich habe ich zusammen mit Oliver Hart einen Aufsatz fertiggestellt, in dem es darum geht, dass die Maximierung des „Shareholder value“ durch eine Maximierung der „Shareholder welfare“ ersetzt werden sollte[8]. Die Maximierung des Shareholder value ignoriert die großen externen Effekte, die Unternehmen erzeugen, nicht nur ökologische, sondern auch politische. In den sechziger und siebziger Jahren waren die Unternehmen lokal (sowohl in der Produktion als auch in den Eigentumsverhältnissen), so dass diese Internalisierung aufgrund des sozialen Drucks einfacher war. Es muss ein Weg gefunden werden, die großen und diversifizierten Unternehmen von heute dazu zu bewegen, einige ihrer externen Effekte zu internalisieren. Die Maximierung des Wohlstands der Aktionäre ist die Marktlösung, um dieses Ergebnis zu erreichen.

PWP: Im Bereich des Kartellrechts haben Sie sich auch mit „Kill zones“ befasst, dem Problem, dass neue Unternehmen, insbesondere Start-ups, Schwierigkeiten haben, eine Finanzierung zu erhalten, wenn sie zu nahe an große Plattformen wie Facebook und Google herankommen [9] . Dies schreckt Innovationen ab, was gesellschaftlich schädlich ist. Was kann dagegen unternommen werden?

Zingales: Sogenannte Kill zones gibt es, wenn starke Netzwerkeffekte bestehen und einige Kunden mit Wechselkosten („Switching costs“) konfrontiert sind. Stellen Sie sich vor, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass der etablier

te Marktteilnehmer den neuen Anbieter kauft. Dann werden einige potenzielle frühe Kunden des neuen Anbieters warten, bis dessen Produkt in das Produkt des etablierten Marktteilnehmers integriert ist, anstatt zu wechseln. Aus diesem Grund kann das etablierte Unternehmen den neuen Anbieter zu einem niedrigeren Preis erwerben. Die Verringerung der voraussichtlichen Gewinne für neue Marktteilnehmer schafft somit eine Kill zone, oder Todeszone, im Bereich der Neugründungen, in der der Markteintritt schwer zu finanzieren ist. Meiner Meinung nach besteht das größte Problem darin, dass es in einer Welt mit starken Netzwerkeffekten fast immer auch Verbundvorteile („Economies of scope“) gibt. Wenn ich also ein großes Netzwerk besitze, kann ich leicht überall expandieren. Es ist sehr schwierig, mich einzuschränken. Denken Sie nur an Facebook und seinen Schritt, einen eigenen Stablecoin zu schaffen. Dieser wäre leicht von 2,5 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt angenommen worden. Diese Dinge haben gigantische Auswirkungen. All dies veranlasst mich zu der Feststellung: Wir brauchen dringend mehr Ordoliberalismus. Wir können nicht in einer Welt des Laissez-faire leben. Die Gefahr einer enormen Machtkonzentration ist einfach zu groß, um sie zu tolerieren.

PWP: Aber wie soll das gehen?

Zingales: Das ist nicht einfach. Ein Teil meiner Antwort wäre eine größere Zurückhaltung bei der Genehmigung von Fusionen, wobei ich nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politisch-ökonomischen Auswirkungen berücksichtigen würde. Der andere Teil wäre, Interoperabilität zu erzwingen – ich denke, das ist ein wirklich wichtiges Element einer Lösung. Was die sozialen Medien angeht, ist meine Lieblingslösung eigentlich ganz einfach. Man spaltet Facebook auf, aber nicht indem man WhatsApp von Facebook abspaltet, sondern mit einem Schnitt entlang der Linie zwischen der „Pipe“, der Leitung, und dem Editor.

PWP: Wie, was?

Zingales: Facebook tut zwei Dinge. Es erlaubt einem, eigene Inhalte zu posten – das ist der Pipe-Teil. Und es wählt aus, welche Inhalte es Ihnen empfiehlt – das ist der Editor-Teil. Heute sind beide Bereiche vermischt, und der eine subventioniert den anderen, so dass Facebook ein natürliches Monopol im editorischen Bereich hat. Man kann sich nicht einmal von den Empfehlungen abmelden.

PWP: Wir bräuchten also konkurrierende Editoren.

Zingales: Ganz genau. Und der Markt würde das ohne Weiteres ermöglichen, wenn man für alle die gleichen Bedingungen schüfe. Aber dann muss man über den Preis für die Entbündelung entscheiden. Und der muss reguliert werden, weil die Pipe ein Monopol ist.

PWP: Sind Sie sicher, dass eine Beschränkung von Fusionen das Problem der Kill zone lösen würde? In Deutschland hatten wir ein studentisches soziales Netzwerk „StudiVZ“, das die Eigentümer nicht an Facebook verkaufen wollten. Sie waren der Meinung, dass der Markt gekippt war und Facebook in Deutschland keinen Erfolg haben würde. Die Fusion hat also nie stattgefunden. Facebook trat dann in den deutschen Markt ein, StudiVZ verlor den Wettbewerb und ging in Konkurs. Jetzt haben wir also immer noch ein Monopol – auch ohne die Killer-Übernahme, die nie stattgefunden hat.

Zingales: Dem stimme ich voll und ganz zu. Genau aus diesem Grund halte ich die Trennung von Facebook und WhatsApp für kein überzeugendes Mittel. Wenn der Markt diese Eigenschaften hat, hilft die Aufspaltung zwar in einer Übergangsphase, aber nicht auf Dauer. Deshalb bin ich der Meinung, dass man mehr strukturelle Abhilfemaßnahmen wie Interoperabilität braucht.

PWP: Lassen Sie uns noch einmal auf Ihr Rollenverständnis als Wirtschaftswissenschaftler zurückkommen. Es ist klar, dass Sie ein leidenschaftlicher Ökonom sind, und Sie sind nicht nur Wissenschaftler, sondern auch in gewisser Weise politischer Aktivist. Sie haben einmal gesagt, dass Sie auch von der Idee einer wertfreien Wissenschaft oder einer scharfen Trennung zwischen positiver und normativer Analyse nicht sehr überzeugt sind. Damit positionieren Sie sich anders als wahrscheinlich die meisten Ihrer Kollegen. Wie begründen Sie das?

Zingales: Das liegt in meiner Natur. Ich bin ein zutiefst politisches Wesen, und ich wäre einfach nicht gut darin, in meiner Arbeit das Positive vollständig vom Normativen zu trennen. Ich muss auch sagen, dass ich zunehmend empfindlich auf Ökonomen reagiere, die behaupten, rein positiv zu arbeiten. In den meisten Fällen ist das einfach nicht der Fall. Die Normativität kommt dann bösartig durch die Hintertür herein und ist oft nur schwerer zu erkennen, was viel schlimmer ist, als wenn man sie offen ausspricht. Es fängt schon damit an, dass wir alle über Dinge forschen, die uns irgendwie am Herzen liegen. Wir können nicht völlig wertfrei sein. Dass Ökonomen der Diskriminierung lange keine große Aufmerksamkeit schenkten, lag daran, dass es sie nicht wirklich interessierte. Aber jetzt, wo zum Beispiel mehr Frauen und ethnisch diverse Menschen den Weg in die Forschung gefunden haben, gibt es auch mehr Arbeiten über Diskriminierung – einfach weil es ihnen wichtig ist. Jede Auswahl von Themen ist normativ. Das habe ich auch der American Economic Association erklärt.[10]

PWP: Mit Ihrem politischen Engagement machen Sie sich sicherlich auch manchmal unbeliebt.

Zingales: Ja, natürlich. Dieses Risiko geht man auch mit jedem Meinungsbeitrag für eine Zeitung ein. Nach der Eurokrise habe ich ein kleines Buch in italienischer Sprache geschrieben, in dem ich die Frage stellte, ob der Euro vielleicht doch keine so gute Idee für Italien sei[11]. Das machte mich in vielen Kreisen zur Persona non grata, und ich musste erleben, wie die Medien versuchten, mich fertigzumachen. Es gab regelrechten Rufmord. Ich wollte keineswegs den Austritt Italiens aus der Eurozone fordern, wie mir vorgeworfen wurde. Ein Austritt wäre äußerst kompliziert und kostspielig. Ich hatte die Abwertung mit einer Droge verglichen. In den siebziger und achtziger Jahren hatte Italien sehr oft zur Abwertung der Lira gegriffen, auch in Situationen, in denen dies wirtschaftlich nicht notwendig gewesen wäre. Und wenn man sich an die Abwertung gewöhnt, wird das Land von ihr abhängig. Aber so wie man sich nicht gerne ohne Narkose operieren lässt, weil es extrem schmerzhaft wäre, war es bedauerlich, dass man sich in einer Zeit, in der Flexibilität dringend nötig war, derart fest an den Mast der D-Mark gebunden hat. Denken Sie nur an den Beitritt Chinas zur WTO im Jahr 2001 – das war ein dramatischer wirtschaftlicher Schock, der vor allem die italienischen Terms of trade schwer belastet hat. Auf jeden Fall war der soziale Druck auf mich nach meinem Buch enorm, und ich habe mit der Zeit erkannt, dass dies ein Aspekt ist, über den wir für unseren gesamten Berufsstand mehr nachdenken sollten.

PWP: Meinen Sie in menschlicher Hinsicht – oder in wissenschaftlicher?

Zingales: Beides. Wissenschaftlich, ja, ich habe das Thema bei der American Economic Association angesprochen, aber ich habe auch einen längeren Aufsatz darüber geschrieben – eigentlich eines meiner Lieblingspapiere, aber kaum jemand zitiert es[12]. Darin wende ich einfach die von George Stigler einmal entwickelte Theorie der regulatorischen Vereinnahmung[13] auf uns selbst an. Alles hat mit Anreizen zu tun. Die Regulierungsbehörden sind nicht bösartig, und wir Ökonomen sind es auch nicht. Die Anreize wirken auf die Regulierungsbehörden in der Weise ein, dass sie sich aus gesellschaftlicher Sicht zu sehr für die Interessen der regulierten Unternehmen einsetzen. Und die Anreize machen das Gleiche auch mit uns. Wir Ökonomen müssen uns ebenfalls vor Vereinnahmung hüten.

PWP: Wie kommt es zu einer solchen Vereinnahmung?

Zingales: Ein direkter, sehr subtiler Weg zur Vereinnahmung der Ökonomen besteht darin, dass Unternehmen – oder Regierungen – uns selektiven Zugang zu Daten gewähren. Das macht uns von ihnen abhängig, und es ist nicht einfach, sich aus dieser Abhängigkeit intellektuell zu befreien. Ein Beispiel: Uber. Ein junger Kollege von mir hat einmal eine Arbeit über die Frage geschrieben, ob und inwieweit die Verbreitung von Uber zu einem Rückgang der Verkehrstoten führt. Wir haben uns die verfügbaren Daten genauer angeschaut und festgestellt, dass die Zahl der Verkehrstoten nicht etwa gesunken, sondern gestiegen ist. Die Erklärung ist ziemlich einfach: Die Kunden ersetzen mit Uber den öffentlichen Nahverkehr und nicht ihr eigenes Auto. Das bedeutet, dass mehr Autos auf den Straßen unterwegs sind, was wiederum zu mehr Unfällen führt. Als die Studie veröffentlicht wurde[14], wurde sie vom Chefvolkswirten von Uber in der Luft zerrissen; er sagte, sie sei methodisch fehlerhaft und beruhe auf unvollständigen Daten. Aber sie haben uns ihre Daten nicht gegeben. Sie gaben sie einer Gruppe von Ökonomen, welche die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede bei Uber untersuchen wollten.

PWP: Es tut nichts zur Sache, aber wie kann es in diesem Gewerbe überhaupt zu einem geschlechtsspezifischen Lohnunterschied kommen?

Zingales: Es gibt ihn. Theoretisch könnte es an den Trinkgeldern liegen – aber das ist nicht der Fall, sie sind gleich hoch. Stattdessen lautet die Erklärung, dass Männer schneller fahren und deshalb eine Prämie kassieren. Das Problem ist, dass der von dieser Gruppe von Ökonomen verfasste Beitrag[15] an diesem Punkt endet. Die Autoren hätten zumindest die offensichtliche Frage stellen müssen, ob schnelleres Fahren nicht auch dazu führt, dass mehr Menschen zu Schaden kommen. Dass diese Frage nicht gestellt wird, ist eine Beleidigung für die Intelligenz eines jeden Ökonomen. Meine starke Vermutung – ich habe keine Beweise – ist, dass Uber einfach nicht zugelassen hat, dass die Untersuchung auf diese Frage ausgeweitet wird. Meiner Ansicht nach ist ein Verdacht begründet, wenn ein Unternehmen über Daten verfügt, die Klarheit bringen könnten, es diese Daten aber nicht allgemein zugänglich macht. Ich plädiere dafür, in solchen Fällen die Beweislast umzukehren.[16]

Mit Luigi Zingales sprachen Justus Haucap und Karen Horn. Luigi Zingales wurde von Steinar Bleken fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Luigi Zingales: Unternehmen, Wettbewerb und Macht

Karen Horn

Luigi Zingales, 1963 in Padua geboren, stammt aus einer italienischen Ingenieursfamilie. Der Vater, Giuseppe Zingales, war Professor für elektrische Messungen an der Universität Padua. „Ich bin das schwarze Schaf der Familie“, sagt der Sohn und grinst. Schon in der Schule fesselten ihn Geschichte und Geisteswissenschaften, und von dort war der Weg zum Interesse an der Wirtschaft für ihn nicht mehr weit. Die Ölkrise 1973 schockierte den Knaben: „Ich war zwar erst 10 Jahre alt, hatte aber ganz klar das Bewusstsein, dass die Welt, wie ich sie kannte, zu Ende ging.“ Es herrschten hohe Inflation und Instabilität; Italien musste erstmals beim Internationalen Währungsfonds (IWF) Geld leihen. All dies trug dazu bei, dass seine Heimatstadt in den siebziger Jahren „ein politisch heißes, revolutionäres Pflaster“ war, wie er sich erinnert. Schon damals war er, der sich als zutiefst politischen Menschen versteht, auf Seite der Liberalen aktiv.

Als es um den Sprung an die Universität ging, entschied er sich für den neuen Studiengang „Discipline economiche e sociali“, den die Bocconi-Universität in Mailand damals ins Leben rief. Dieser breite Themenzuschnitt sprach ihn wesentlich mehr an als die ansonsten üblichen betriebswirtschaftlichen Studiengänge „Economia e commercio“. Das Studium erwies sich als sehr anspruchsvoll und mathematischer, als er gedacht hatte, aber das kam ihm durchaus entgegen. Das Besondere an der Bocconi-Universität war damals, so erinnert sich Zingales, ihre ungewöhnlich enge fachliche Vernetzung mit den Vereinigten Staaten, wo wissenschaftlich die Musik spielte. Die Universität schickte Nachwuchswissenschaftler aktiv ins Ausland und lud sie von dort dann später als Visiting Fellows wieder zurück nach Mailand ein. Was diese mitbrachten, faszinierte Zingales: „Man konnte sehen, sie kamen aus einer wissenschaftlich völlig anderen Welt.“ Das wollte er auch.

So ging er nach seinem Bocconi-Abschluss ebenfalls in die Vereinigten Staaten, ans Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort lehrte Robert Merton, der spätere Nobelpreisträger (1997), der allerdings bald darauf an die nahegelegene Harvard University wechselte. Kein Desaster, betont Zingales: Welch unglaublich reiches wissenschaftliches Lehrangebot die räumliche Nähe der beiden Universitäten für Studenten mit sich bringe, werde häufig

unterschätzt. Dank dieser Tatsache hat ihn auch Andrei Shleifer stark prägen können, der in Harvard lehrte. Am MIT wiederum weckte Oliver Hart, ebenfalls späterer Nobelpreisträger (2016), Zingales’ Interesse an den Fachgebieten Corporate Finance und Theorie der Firma. Bei Hart und James Poterba schrieb er seine Doktorarbeit über den Wert der Unternehmenskontrolle[17]. Mit Hart forscht und publiziert er bis heute viel gemeinsam, ebenso wie mit seinem MIT-Kommilitonen Raghuram G. Rajan, der später Chefökonom des IWF wurde, die Notenbank Indiens leitete und heute wieder in einem der Nachbarbüros sitzt.

Eigentlich war Zingales nur für die Doktorarbeit in die Vereinigten Staaten gegangen und wollte, dem Bocconi-Modell treu, nach der Promotion wieder nach Italien heimkehren. Doch er stellte fest, dass die akademische Welt in Italien noch sehr hierarchisch und verschlossen war. Außerdem wäre er mit italienischen Universitätsgehältern kaum in der Lage gewesen, die gerade im Entstehen begriffene Familie zu ernähren. Also schaute er sich auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt für Wissenschaftler um und landete 1992 an der Booth School of Business der University of Chicago, wo er in der Folge den gesamten Karriereweg vom Assistant zum Full Professor zurücklegte und einen Forschungspreis nach dem anderen einheimste. Bis heute forscht und lehrt er an seinem Lehrstuhl für Entrepreneurship and Finance in Chicago – mit gelegentlichen Abstechern nach Harvard und ans MIT.

Die Vielfalt seiner Themen ist nachgerade verwirrend. Zingales forscht zu allem, was ihn interessiert, und dazu gehören nicht zuletzt auch Fragen der Verhaltensökonomik und der Wettbewerbstheorie. Sein Schwerpunkt lag dabei anfänglich zunächst weiter auf Fragen der Corporate Finance und der Theorie der Firma. Gemeinsam mit seinem Koautor Rajan entwickelte er einen neuen Blick auf das Unternehmen als „Nexus of specific investments: a combination of mutually specialized assets and people“[18]. Dass hier das Humankapital, das nicht im Eigentum der Firma steht, eine zentrale Rolle spielt, führte Zingales dazu, eine partnerschaftliche Form der Governance zu entwerfen und in deren Licht die Investitions- und Finanzierungsentscheidungen des Unternehmens neu zu betrachten[19].

An die Analyse der Unternehmen schloss sich nahtlos die Betrachtung ihres institutionellen und politischen Umfelds an. Die im Kern ordoliberale Frage, wie man die Marktwirtschaft davor bewahren kann, durch eine Zusammenballung von privatwirtschaftlicher Macht pervertiert zu werden, trieb Zingales politisch um und rückte zunehmend ins Zentrum seines wissenschaftlichen Interesses. Auf die Partikularinteressen von Unternehmen, denen daran gelegen ist, die Intensität des Wettbewerbs auf ihrem Markt zu drosseln, führten Rajan und er zurück, dass sich manche Entwicklungsländer so schwertun, sich wirtschaftlich zu öffnen.[20] Diesen Gedanken entwickelten die beiden Autoren in einem gemeinsamen Buch weiter, „Saving Capitalism from the Capitalists“[21], in die Forderung nach stärkerer Öffnung zum Weltmarkt und offensiver Wettbewerbspolitik mündend.

Auf die Spitze getrieben ist diese Reflexion in Zingales’ zweitem, diesmal alleine verfassten Buch „A Capitalism for the People“[22], wo er die Vereinigten Staaten auf dem Weg in den Crony capitalism sieht, mit der Politik als Beute der Großkonzerne, und die Hoffnung äußert, dass sich der berechtigte Zorn der Bevölkerung über diese Vermachtung des Systems in eine größere Unterstützung für die Marktwirtschaft ummünzen lässt. Das Buch ist, wie Zingales erklärt, das Ergebnis einer tiefen Selbstreflexion nach der großen Finanzkrise des Jahres 2008. Die Bankenrettungen damals sah er ausgesprochen kritisch, sowohl aus anreiztheoretischen als auch aus verteilungspolitischen Gründen.

Trotz seiner Entscheidung für die Vereinigten Staaten als Lebensmittelpunkt hat sich der Italiener in verschiedenen Rollen immer auch in seinem Heimatland engagiert: „Das ist eine Konstante meines Lebens.“ Lange schrieb er regelmäßig für italienische Zeitungen und Magazine. Seine theoretischen Kenntnisse über Unternehmen flossen von 2007 bis 2014 in seine Aufgabe als Aufsichtsratsmitglied von Telecom Italia ein, wo er die Minderheitsinvestoren vertrat; „da habe ich auch viel gelernt“. Anschließend folgte ein kurzes Gastspiel im Aufsichtsrat des Mineralöl- und Energiekonzerns Eni, eines ehemaligen Staatsmonopolisten. „Der Laden hatte nicht gerade die sauberste Reputation.“ Von seiner Berufung durch den damaligen Premierminister Matteo Renzi hatten die Medien vor ihm selbst erfahren; ihm blieb nur noch, sich zu vergewissern, dass im Vorstand der Wille bestand, etwas zu ändern. „Ich habe dieses Amt eigentlich nur zur Erfüllung meiner staatsbürgerlichen Pflichten angenommen.“ Kurz war die Episode, weil ihm alsbald klar wurde, dass es mit dem bekundete Willen zur Veränderung nicht weit her war; er war im Aufsichtsrat isoliert. Er trat zurück und musste sich danach mit einer Verleumdungsklage herumschlagen, zu deren Ausgangspunkt die Behörden noch immer ermitteln – „eine der große Enttäuschungen meines Lebens“.

Eine andere italienische Enttäuschung lag da erst kurz zurück: Mit einigen Mitstreitern hatte er 2012 die liberale Partei „Fare“ ins Leben gerufen, mit vollem Namen „Fare per fermare il declino“ (Etwas tun, um den Niedergang aufzuhalten). Zum Wirtschaftsprogramm gehörten Liberalisierungen und Privatisierungen sowie das Versprechen, binnen fünf Jahren die Staatsschulden um 20 Prozent abzubauen, die Staatsausgaben um mindestens 6 Prozent zu drosseln und die Steuerlast um 5 Prozent zu senken. Als kurz vor den Wahlen 2013 klar wurde, dass der Parteipräsident Oscar Giannino öffentliche Falschaussagen über seine Ausbildung gemacht hatte, drängte ihn Zingales zum Rücktritt und geriet darüber innerhalb der Partei selber unter Beschuss. Daraufhin zog er sich aus dem Geschehen zurück. Die Partei bekam in den Wahlen keinen Sitz und ist seit 2014 inaktiv.

In Chicago übernahm Zingales im Jahr 2015 zusätzlich zu seinem Lehrstuhl noch die Leitung des bereits 1977 gegründeten George J. Stigler Center for the Study of the Economy and the State, wo Forschungsthemen der politischen Ökonomie im Vordergrund stehen, insbesondere die Verzerrung des Wettbewerbs durch Partikularinteressen, Regulatory capture und Crony capitalism. Das Center betreibt unter anderem den Blog „ProMarket“, auf dem der vor Ideen nur so sprudelnde Zingales häufig schreibt[23], wenn er nicht gerade einen seiner „Capitalisn’t“-Podcasts einspielt,[24] wo es darum geht, was in der heutigen Marktwirtschaft funktioniert und was nicht. Der Name „ProMarket“ ist Programm: Zingales ist „pro market“, aber keinesfalls „pro business“ – er schätzt die Meriten des Wettbewerbs, aber misstraut den Unternehmen. Schließlich weiß man spätestens seit Adam Smith, dass „Leute vom selben Gewerbe [... ] sogar zu Vergnügungen und zur Zerstreuung selten zusammen[kommen], ohne dass die Unterhaltung in einer Verschwörung gegen die Allgemeinheit [...] endet“.[25]

Online erschienen: 2022-11-22
Erschienen im Druck: 2022-11-28

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 6.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2022-0042/html
Scroll to top button